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Vorlesung in Marburg, Deutschland


Vytautas Landsbergis

 

Meine Damen und Herren!

Mikalojus Konstantinas Ciurlionis war eine berühmte, besondere Persönlichkeit. Er lebte von 1875 bis 1911, insgesamt 35 Jahre - ein typisches Alter für einen Romantiker. Seine Lebensstationen waren Litauen - Polen - Litauen - Deutschland - Litauen - Polen - Litauen - Russland - Litauen - Polen, und sein Grab befindet sich in Vilnius.

Er war Komponist, Maler und Graphiker, Schriftsteller und Kritiker, ein Mann des öffentlichen Lebens, der sich für die Kunst und die Wiedergeburt des litauischen Volkes aufopferte.

Kentnisse über seine Biographie sind in einigen deutschsprachigen Quellen zu finden. Dazu gehören die Monographien von Nikolaj Worobiow (1938, Leipzig und Kaunas) und Gytis Vaitkûnas (1975, Verlag der Kunst, Dresden) und das Bildband "Gemälde, Skizzen, Gedanken", das 1997 im Verlag Fodio, Editalia erchienen ist.

In der Malerei von M. K. Ciurlionis spiegeln sich die neuen Kunstrichtungen seiner Zeit, der Symbolismus und der Jugendstil, wider, sie ist aber zugleich sehr individuell und weist auf viel weiter liegende Ziele hin. Ciurlionis fühlte sich sowohl von der Erscheinungen der menschlichen Seele, die mit der Seele der Natur korrespondieren, als auch umgekehrt von der Natur als Seele angezogen; er interessierte sich auch für die Seele der Menscheit, deren Bemühungen, ihrer selbst bewusst zu werden, seit der Urzeiten in den Religionen zu finden sind. In den Aufzeichnungen des Künstlers begegnen wir der Idee, dass der menschliche Geist ein Teil des göttlichen Geistes ist, und alle diese Teile zusammen einen einheitlichen Geist bilden.

Die spiritualistische und animalistische Weltauffassung ist in mehreren frühen symbolistischen Bildern von Ciurlionis, jedoch nicht nur in diesen zu spüren. Der Kosmos als Sitz der Grossen, alles beherrschenden Kräfte wird in seinem Zyklus "Tierkreiszeichen" und in solchen Bildern, wie das "Märchen-Königen" oder "Rex" dargestellt, ist aber auch in den relativ einfachen Landschaftsbildern (z. B. in den "Winter"- und "Sommer"-Zyklen) zu finden. Mensch, Natur und Kosmos sind nicht von einander abgegrenzt. Die Bilder sind von Raumrhytmen und Farbenharmonie, von dem Gefühl eines eigentlichen Modus und einer eigentlichen koloristischen Tonart erfühlt. Dadurch werden wir daran erinnert, dass dieser Maler vor allem ein Berufskomponist war, der zwei Konservatorien absolviert hatte und intensiv über der Verhältnis von Leben und Musik nachdachte. Die Musik war für ihn gleichzeitig die Sprache der menschlichen Seele und eine universelle Kunststruktur, die alles symbolisieren kann und deren Formen sich auch für andere Kunstarten eignen. "Die Musik besitzt eine eigene Architektur, die auch anderswo verwendet werden kann" hat einmal Ciurlionis gesagt. Diese Überzeugung liegt seinen gemalten Sonaten (als Bilderzyklen: Allegro, Andante, Scherzo und Finale) sowie seinen gemahlten Präludien und Fugen zugrunde.

Die Idee des Kunst-Universalismus für Ciurlionis nicht den Weg zu einem einheitlichen oder allgemeinen, von einer einheitlichen Code beherrschten Spiel der Vernunftkräfte bedeutet hat. Es war eher ganz umgekehrt: Ciurlionis versuchte, die formalen Konventionen der Malerei zu überwinden und Freiheit zu finden; er benutzte manchmal Konstruktionen, die von Bach und Beethoven kultiviert wurden, verstand sie aber nicht mehr als formales Gebilde, sondern als abstrakteste und aufrichtigste Weise, die Existenz zu modellieren. Die Kunst durfte für ihn auf keinen Fall nur für sich selbst, für den Ausdruck des ego und für den Kreis der Eingewissten, geschweige denn für zukünftige Glasperlen-Spieler bestimmt sein. "Wenn je einer zu meinen Bildern kommt und eine aufsteigende Gefühlswelle spürt, wird er sich nie mehr zurückziehen können", hat einmal der Künstler zu seinem Vater, einem alten Dorforganisten, gesagt.

Die Persönlichkeit des Künstlers wurde zuerst durch die Kindheit in Litauen, in einem wunderschönen Ort Druskininkai, am Uffer des Nemunas-Flusses, und durch die Familie geprägt, in der beide Eltern sich durch unterschiedliche, doch bemerkenswerte Zügen aufwiesen. Sein Vater war Musiker, Kirchenorganist, zugleich aber als Litauer und Bauersohn der echte Freund der Natur. Die Mutter sorgte für die vielen Kinder (11 wurden geboren, für 9 davon war ein längeres Leben gegeben) und liebte es, ihnen Märchen zu erzählen und Lieder vorzusingen. Der künftige Künstler wuchs auf, umgeben von eigener Natur und von eigenen Lieder, die er später sammelte und harmonisierte. Die Bewegung der litauischen nationalen Wiedergeburt war zum Sinn seines Lebens geworden. Viele Jahre verbrachte in Warschau, wo er das Musikinstitut absolvierte und an der Kunstschule studierte, deshalb war er auch mit der polnischen Kultur bekannt und wurde von ihr beeinflusst.

Da ich nun hier, in Deutschland, rede, ist es sinnvoll, auch das Verhältnis von Èiurlionis zur deutschen Kultur zu erwähnen.

Seine Mutter, die als unverheiratetes Mädchen die Namen Adele Marija Magdalena Radmann trug, war als Tochter eines bayrischen Einwanderers in Litauen aufgewachsen. Sie konnte vier Sprachen sprechen. Es scheint aber, dass in der Èiurlionis-Familie Deutsch nicht gesprochen wurde. Jedenfalls war Èiurlionis, als er zum Studium nach Leipzig kam, der deutschen Sprache nicht mächtig. Die Mutter aber, obwohl hoch in den Jahren, konnte noch wärend des Ersten Weltkrieges und der später ausgebrochenen Unabhängigkeitskriegen sith mit deutschen Soldaten auf Deutsch verständigen. Mit den Vettern mütterlicherseits führte Èiurlionis seine Korrespondenz auf Polnisch. Einiges ist auch über seinen deutschen Grossvater Radmann bekannt geblieben. Er sei ein wahrer Hüne gewesen und sei an den Folgen eines Wettkampfs gestorben, bei dem er einen Baum aus der Erde riss. Von Beruf war der Grossvater ein Zimmermann, er baute Häuser und verstand sich auf Schnitzereien. Ausserdem machte er besonders schönes Bernsteinschmuck.

Nach dem Abschluss des Warschauer Musikinstituts (Konservatorium), begab sich Èiurlionis nach Leipzig, wo er and der Hochschule für Musik seine Kompositionsstudien fortsetzte. Hier studierte er bei den Professoren Carl Reinecke und Salomon Jahdasson; in seinen Briefen aus jener Zeit findet man viele Stellen, in denen er von den tiefen Eindrücken erzählt, die ihm das Gewandhausorchester unter der Leitung von Artur Nikisch hinterließ. Die Kunst lernte er in Museen kennen, es gibt auch einige Hinweise darauf, dass er Vorträge über Experimentalpsychologie des Professors der Leipziger Universität Wilhelm Wundt als freier Zuhörer besuchte.

Unter den deutschen Philosophen interessierte sich Èiurlionis und seine Freunde aus den Warschauer Künstlerkreisen vor allem Friedrich Nietzsche. Jeder hatte damals „Also sprach Zaratustra" gelesen. Die tiefsten und für seine Künstlerreife entscheidenden musikalischen Eindrücke brachte die Musik von J. S. Bach, Ludwig van Beethoven, R. Wagner und R. Strauss. Den Reiseeindrücken aus dem Jahre 1906 ist zu entnehmen, dass er Dresden, Nürnberg, München und die Kunstgalereien dieser Städte besuchte.

Seine Weltauffassung und seine Persönlichkeit sind am besten in seinen Briefen bezeugt, deshalb will ich hier einige Auszüge daraus vorlesen.

"Du sagst, wenn Du kein Mensch bist, möchtest Du kein Wurm sein, - schrieb Èiurlionis an seinen Bruder Povilas. - Schön, aber was ist ein Mensch, wenn Du es nicht bist? Muß man denn, um Mensch zu sein, ein Zeichen auf der Stirn haben, d. h. muß man denn Schuster, Ingenieur, Priester oder Musiker sein? So denkst Du wohl nicht, denn Du weißt sehr gut, daß man z. B. ein Priester sein kann und dabei kein Mensch, und ähnlich (. . .) Ich habe immer gewünscht, daß Du ein Mensch bist, so wie ich das verstehe, d. h. ein Mensch, der alles fühlt, versteht und zum Guten und Schönen strebt (...) Willst Du vielleicht sagen, daß Du den Menschen sehr nützlich sein möchtest, viel Gutes tun usw. Und ich antworte Dir darauf, Du sollst Dich nicht darum kümmern (. . .) Du wirst mir wohl recht geben, daß manchmal ein gutes, freundliches Wort mehr Gutes tut, als ein Wagen voll Gold, ein warmer, herzlicher Blick - mehr als drei Bände Mechanik" .

,,Professor der Komposition Reinecke ist ein stiller, sanfter Alter, selbst ein guter Komponist. Wir vertragen uns gut und sind miteinander zufrieden. Allerdings gibt es manchmal kleine Unstimmigkeiten. Er liebt die Musik klar, zart und ohne jegliche Dissonanzen. Da ich aber das schreibe, was ich fühle, sind meine Kompositionen bisweilen sehr traurig: in ihnen spiegelt sich oft die litauische Sehnsucht, die Note des Volkes wider, die Reinecke (selbstverständlich) nicht begreift, denn er ist ein Deutscher. Manchmal zwänge ich einige scharfe Dissonanzen hinein. Der Alte wird finster und fragt „Warum so traurig?" Weiß ich denn das!"

"Du sagst, Diplom? Was habe ich davon? Es hilft mir weder eine Polka noch eine Mazurka komponieren, und der Dienst eines ,,Musikdirektors" ist nicht für mich. Ich kann einen so schwachen Menschen nicht leiten, wie ich selbst es bin, von der Führung anderer ganz zu schweigen. Vielleicht nur als Straβenbahnfόhrer (oder Droschkenkutscher)? (…) Ich bin fest überzeugt, daß man von sich selbst viel erlangen muß. Je mehr, umso besser. Komponieren nur um des Komponierens willen, dann besser überhaupt nicht komponieren. Man soll nichts fürchten, denn kein Kritiker wird mir das sagen, was ich mir selbst sagen kann".

"Ich wanderte sehr angenehm, sehr leicht, ganz allein. Der Himmel war mit grünlichem Nebel überzogen, wie mit silbernen Spinnweben, hier und da ein Stern, wie eine verirrte und eingefangene Fliege, die mit ihren goldenen Flügeln schlägt, und ganz in der Mitte sitzt die Spinne - der Mond - und blickt so bedeutungsvoll mit seinem großen Auge, blinzelt nicht, und all das geschieht in einer heiligen Stille. Plötzlich - ich wäre beinahe umgefallen - in seiner eigenen Pfütze liegt mitten auf dem Wege ein Mensch. Es war ein bekannter Säufer, ein abscheulicher, hoffnungsloser Mensch, ebenso hoffnungslos betrunken, und schlief den Schlaf des Gerechten. Ich blickte eine Weile auf ihn, auf den Mond, den strahlenden Nebel, der die Wellen der Berge bedeckte, und es kam mir der Gedanke, daß ich eine sehr wichtige Sache nicht verstehe".

"Und ich male. Ich stehe um sieben oder noch früher auf und kann nicht loskommen, so sehr will ich malen. Ich arbeite zehn Stunden und mehr. Aber ist das denn eine Arbeit ? Ich weiß nicht, wohin die Zeit schwindet, alles verschwindet irgendwohin, und ich wandere über die fernen Horizonte meiner erdachten Welt, die zwar etwas wunderlich ist, aber ich fühle mich gut darin. Die "Sonate" habe ich vollendet, die "Fuge" gemalt, und jetzt male ich eine neue Sonate. Wenn ich daran denke, daß Du sie sehen wirst, schäme ich mich ein wenig und erzittere. . ."

Und jetzt zwei Auszüge aus seinem eigenen poetischen Schaffen, aus seinen Dichtungen in Prosa. Hier kommt sowohl seine Liebe für das Mädchen, das er mit Deminituvnamen eines Berges und eines Gletschers anredet, als auch der tiefe Inhalt seines Lebens und Dasein zum Ausdruck.

"Warum ist das Kasbeklein traurig? Blitzen Deine Edelsteine zu wenig, Du weißköpfiges Dewdorakchen? Sieh, die Sonne schließt die Augen, wenn sie auf Deine zwei blauen Diamanten blickt, und die Wolken machen ihre Stirnen weiß an Deinem Schneekleid, Du meine kleine Prinzessin. Siehst Du, ich bin schon alt, ich habe ein großes Stück meines gefährlichen Weges am Rande des Abgrundes zurückgelegt…"

"Weißt Du was, Kasbeklein, als wir damals beide auf dem Hügel saßen, ging ich still hinunter und beobachtete uns beide. Du warst ganz in der Sonne, und die Sonne war in Dir. Du beleuchtetest mich, und ein großer Schatten fiel von mir fast über den ganzen Hügel. Und Trauer überkam mich, da lief ich bergab, weit, weit. Und als ich zu uns zurückkehrte, da leuchtetest Du noch mehr, aber mein Schatten war nicht mehr da. Wir beide waren sehr beschäftigt: wir mußten eine Erdbeere in zwei gleiche Teile teilen. Wir legten sie auf ein Blättchen und teilten diese kleine Erdbeere mit großem Ernst. Und ich erinnerte mich dann, daß es eine Zeit gab, da die Welt einem Märchen gleich. Die Sonne schien hundertmal heller. Riesige Wälder von silberglänzenden Nüssen erhoben sich an den Ufern der smaragdgrünen Seen, und zwischen den himmelhohen Schachtelhalmen flog ein schrecklicher Pterodactylus, er flog geräuschvoll, sonderbar, er brannte drohend und verschwand in dem strahlenden Nebel der zwölf Regenbogen, die ewig über dem Stillen Ozean stehen.

Erinnerst Du Dich an jene Zeiten, Kleines? Gewiß erinnerst Du Dich. O, bestimmt. Widersprich mir nicht, das sieht man doch in Deinen Augen, Du mein kleines Kasbeklein."

Und zum Schluss - zwei Aphorismen von denen, die zwischen den Skizzen für künftige Bilder in den Arbeitsbüchlein des Künstlers gefunden wurden.

"Liebe - das ist der Weg zur Sonne, mit scharfen Diamanten gepflastert, auf dem Du barfuß gehen mußt".

"Liebe - das ist eines altes Liedchen".

Nun spiele ich die Klavierwerke von M. K Èiurlionis nach der Reihefolge, die im Programm angegeben ist. Dieses Programm hat ein jeder von Ihnen. Dort finden Sie die einzelnen Titel als auch ihre Enstehungschronologie. Ich werde dieses Programm ohne Pause spielen. Auf dem Bildschirm werden Sie die Bilder von Èiurlionis sehen, denen die Musik als Kommentar dient. Doch man soll nicht denken, dass die jeweilige Bilder und Musikstücken unmittelbar miteinander verbunden waren. Sie waren und sind nur durch den Geist ihres Schöpfers verbunden; die Auswahl, welches Bild mit welchem Musikstück in diesem Konzert in Verbindung gebracht werden kann, ist von mir getroffen.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Naujausi pakeitimai - 2003-01-06


© Seimo kanceliarija

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